Vera Lourié

T. Kruglikow/ Migration

Emigriert im Alter von 20 Jahren, in der Berliner Bohème mitgemischt, lange vergessen, als Zeitzeugin wiederentdeckt. Das ist Vera Lourié. Hinter dieser Frau steckt mehr.

Mit jüdischen Vorfahren ist sie 1901 in Sankt Petersburg geboren. Dort durchlebte Vera Lourié eine behütete Kindheit. Nach dem durch eine Erkältung bedingten Tod des 1 jährigen Bruders, wird der Vater aufmerksamer denn je. Vera wird untersagt zur Schule zu gehen, da die Ansteckungsgefahr zu groß sei. Sie wird bis zur dritten Klasse zu Hause unterrichtet, was ihr als eine starke Einengung in Erinnerung bleibt. Ab der dritten Klasse besteht nun auch die Mutter darauf, dass die Schule eine wichtige Instanz ist, woraufhin der Vater Akzeptanz zeigt. Das Verhältnis zu den Eltern war immer gut.

Fast jeden Sommer verbrachte Lourié mit ihrer Mutter im Ausland. Sie selbst hat sich im Nachhinein über diese Art des Urlaubs beschwert. Sie kenne wohl weder die Krim noch den Kaukasus. Der Kurort Kreuznach am Rhein war das beliebteste Ziel, aber auch die befreundete Familie Finkelstein in der Schweiz wurde stets besucht. Letztere besuchten sie 1914 als der 1. Weltkrieg ausbrach. Über Deutschland konnten sie nun nicht mehr zurück, woraufhin sie sich der Familie Finkelstein anschlossen und über Mailand, quer durch Italien nach Brindisi, mit dem Schiff nach Saloniki in Griechenland, durch Serbien und Sofia in Bulgarien nach Bukarest und dann in die Heimatstadt zurückkamen.

1920 beendete Lourié das Gymnasium, woraufhin sie das Pädagogische Institut besuchte. Dies jedoch konnte ihr keinen Spaß bereiten, weswegen sie schnell das Haus der Künste aufsuchte, welche unter anderem Seminare zur Schriftstellerei und Theater anboten. Des Weiteren fanden Kammerkonzerte, Tanzabende und literarische Vorträge statt. Lourié belegte zwei Seminare, unter anderem bei Nikolaj Jewrejnow, der Vorträge über Dramaturgie und Theaterthemen abhielt, und bei Nikolaj Gumiljow, welcher „Die Kunst des Dichtens“ behandelte. Man wird auch im weiteren Verlauf ihres Lebens sehen, dass diese Themen ihren Werdegang bestimmten.
Der Bürgerkrieg war in vollem Gange. Der Vater, der als Arzt ein gutes Jobangebot und besondere Lebensmittelkarten bekam, die zu damaligen Zeiten fast unbezahlbar waren, konnte von seinem Vorhaben die Sowjet Union zu verlassen nicht abgehalten werden. Für Lourié endete eine Etappe.

Durch Passfälscher aus dem Gefängnis erhielt die Familie lettische Pässe, woraufhin sie im Herbst 1921 Petrograd verließen. Die Reise war geprägt durch eine einwöchige Fahrt im Viehwagenzug mit harten Bänken. Die Eltern, samt Lourié, der 7 jährigen Schwester und dem 3 jährigen Bruder verlief über Lettland, wo sie für 10 Tage in Quarantäne verbleiben mussten, nach Riga. Hier kamen sie für einen Monat bei einem Bekannten ihres Großvaters unter. In diesen vier Wochen langweilte sich Lourié sehr und schrieb selbst: „Riga war eine sehr ruhige, sehr saubere, gemütliche, aber entsetzlich langweilige Stadt. Ich wollte nach Berlin, dorthin, wo sich ein großer Teil der russischen Intelligenz befand“. So kam es dann, dass sie nach vier Wochen nach Berlin fuhren und „ein neuer Lebensabschnitt begann […], die Etappe der literarischen Tätigkeit im Berlin der zwanziger Jahre“.

In Berlin angekommen suchte sie bald das Café Landgraf auf, in welchem sie „einen Vortrag über die Petrograder Dichter-Innung“ hielt. Außerdem berichtete sie von der Arbeit und den Werken der russischen Dichter in Petrograd und beendete ihren Vortrag mit eigenen Gedichten. Woraufhin der berühmte russische Dichter Andrej Belyi auf sie zukam und ihre Gedichte publizieren wollte. Dieser arbeitete damals als Redakteur bei der literarischen Zeitschrift „Epopeja“. Lourié verbrachte viel Zeit mit Belyi und besuchte ihn sogar im Süden von Berlin in Zossen oder auch in Swinemünde.

Lourié gehörte der Poetengruppe „Tönende Muschel“ an. Diese trafen sich regelmäßig zu literarischen Abenden in verschiedenen Cafés. Jedoch wurde sie als Dichterin bei ihren Landsleuten nicht anerkannt, sodass es ihr erst im hohen Alter gelang einen Verleger zu finden.

Lourié unterhielt auch einige Affären zu literarischen Größen und unter anderem dem russischen Rechtsanwalt Posnjakow. In einem russisch-jüdischen Club lernte sie den circa fünfzig jährigen Posnjakow kennen. Silvester feierten sie in der Pension Prager Platz. „Ein Tisch war bestellt worden, dort saß Prof. Posnjakow und erwartete uns. Man trank Champagner, man plauderte, man tanzte“. Wenige Tage später ließ er ihr mitteilen, dass sie ihm gut gefalle und lud Lourié zu sich und seiner Ehefrau zum Abendessen ein. Posnjakow begleitete Lourié nach Hause, küsste sie das erste Mal. „Das war der Anfang!“ Er lud sie zum Essen im KaDeWe ein, sie fuhren mit dem Taxi über die Potsdamer Straße, er wollte in ein Hotel, sie verneinte noch. „Daraufhin wurde ich für ihn Geliebte und Sekretärin“.

Posnjakow hat sich unter anderem auch mit der Passfälschung beschäftigt, weswegen er durch einige Intrigen von der Gestapo verhaftet wurde. Lourié wurde beauftragt noch einige Sachen aus seiner Wohnung zu besorgen und „schon in der Diele wurde ich von zwei Gestapomännern in Empfang genommen. Das Dienstmädchen erwies sich als eine Agentin der Geheimen Staatspolizei“. Lourié wurde einem Verhör unterzogen und im Anschluss in einem Privatwagen zum Alexanderplatz gebracht, da es im Gefängnis der Geheimen Staatspolizei keine Zellen für Frauen gab. „Ich hatte ‘Glück’, dass jeden Morgen ein Gestapomann kam, um mich in dem riesigen Gefängniswagen zur Prinz-Albrecht-Straße zu bringen“. Dort musste sie Dokumente von Posnjakow ins Deutsche übersetzen. Sie bekam dort glücklicherweise auch bessere Nahrung.

Louriés Leben war von Umbrüche und Ereignissen geprägt. Sie lebte seit 1933 bis an ihr Lebensende in der Westfälischen Straße 33. Dieser Bericht beschreibt nur einige ihrer wichtigen Zeugnisse. Das Buch „Briefe an Dich – Erinnerungen an das russische Berlin“ legt die Basis dieser Informationen dar. Vera Lourié hat sich im hohen Alter von achtzig Jahren noch einmal verliebt. Diese Liebe ging an die Ehefrau ihres Hausarztes. Sie telefonierten und trafen sich regelmäßig. Lourié schrieb ihr Briefe, indem sie sich in die Vergangenheit zurückversetzte und aus ihren Erinnerungen berichtete. Erst Jahre später wurden diese wirklich abgeschickt und glücklicherweise in diesem Buch veröffentlicht. „Briefe an Dich“ ist ein außergewöhnliches Tagebuch mit wichtigen Details aus dem Alltag, die oft verloren gehen.


Literatur

Liebermann, Doris (2014): Briefe an Dich: Erinnerungen an das russische Berlin. Frankfurt am Main.

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